Er geht ein bisschen gebeugt, als plage ihn das Kreuz. „Ach“, sagt Norbert Nigbur und winkt ab, „ich hatte noch Glück. Das war ein Unfall vor eineinhalb Jahren, mich hat ein Pferd einer guten Bekannten auf der Weide von hinten umgerannt.“ Norbert Nigbur, Traber-Besitzer seit vielen Jahren, erlitt „einen Knacks im Beckenbereich“. Aber er jammert nicht. Tag für Tag kümmert er sich in Castrop-Rauxel um seine Pferde, sie sind seine große Leidenschaft. Aber auch für seine alte Liebe Schalke 04 schlägt noch sein Herz. Norbert Nigbur, der legendäre Schalker Torhüter, wird an diesem Dienstag 70 Jahre alt.
Herr Nigbur, warum werden Sie eigentlich von Ihren früheren Schalker Mitspielern Heini genannt? Weil in meinem Pass Norbert Heinrich Nigbur steht. Der verrückte Abramczik hat das damals mal entdeckt. Dann lief er durch die Kabine und brüllte: Hört mal, wisst Ihr eigentlich, wen wir da im Tor haben? Den Heini! Und dabei ist es dann geblieben...
Sie wurden von den Schalker Fans zu Schalkes Jahrhunderttorwart gewählt. Wie fühlt man sich als königsblaue Legende? Ich empfinde das als große Ehre. Schalke hatte viele gute Torhüter. Aber ich fühle mich auch bestätigt: Es war immer mein Ziel, alles rauszuhauen für die Zuschauer und für den Verein.
Sie waren ein unglaublich sprungkräftiger und reaktionsschneller Torhüter. Meine Entdecker waren Fritz Langner bei Schalke und Dettmar Cramer beim DFB, die haben das früh erkannt. Meine Sprungkraft habe ich gar nicht groß trainieren müssen. Mir kam auch zugute, dass ich ein großes Blickfeld habe, das hat mir sogar ein Augenarzt bestätigt.
Nach einer Parade haben Sie sich oft noch mal extra abgerollt. Weil Sie der Kulisse etwas bieten wollten? Das Abrollen habe ich von einem Fallschirmspringer gelernt, den ich bei der Bundeswehr in Borken kennengelernt habe. Der sagte zu mir: Was du da machst, ist nicht gesund – du darfst nicht mit der Schulter aufkommen, roll dich mal ab. Die Rolle war deshalb bewusst gemacht, keine Show.
Sie sind 1972 mit Schalke Pokalsieger und Vizemeister geworden. Es gibt nicht wenige Zeitzeugen, die meinen, das sei die beste Mannschaft der Schalker Geschichte gewesen. Haben die recht? Wenn man auf die Punkte schaut, auf jeden Fall. Umgerechnet auf die Drei-Punkte-Regel wären es 76.
Und spielerisch? Ja, vermutlich auch. Wenn ich allein an unseren Kapitän Stan Libuda denke, was der im Eins-gegen-Eins drauf hatte, war unvergleichlich. Wäre diese Mannschaft noch drei, vier Jahre zusammengeblieben, wären wir garantiert auch noch Meister geworden. Aber dann kam ja der Skandal…
Viele Spieler wurden gesperrt, als herauskam, dass das 0:1 gegen Bielefeld 1971 verschoben war. Sie saßen damals verletzt auf der Tribüne. Haben Sie nichts gewusst und nichts bemerkt? Auf der Tribüne habe ich mich gefragt, warum sich unsere Spieler vor dem Tor so komisch verhalten haben. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich den Jungs ins Gewissen geredet, vielleicht hätte ich das verhindern können. Meine Stimme hatte Gewicht in der Mannschaft. Konnten Sie den Mitspielern von damals verzeihen? Schließlich hatten die auch Sie um einige mögliche Erfolge gebracht. Ich persönlich war den Jungs nicht böse. Schlimmer war, was sie dem Verein angetan hatten.
1972 gab es auch dieses wahnsinnige Pokal-Halbfinale gegen den 1. FC Köln mit insgesamt 21 Elfmetern. Sie haben drei Elfmeter gehalten und einen selbst verwandelt. Ich war ja ein Elfmeterspezialist, aber an dem Tag kam wirklich alles zusammen. Wir waren in dem Spiel eigentlich zweimal schon weg, aber die Kölner haben ihre Matchbälle vergeben. Bei meinem legendären Schuss hatte ich auch Glück, der ist mir über den Spann gerutscht und dadurch oben im Eck gelandet. Aber wenn’s einmal läuft, dann klappt alles.
Die kurioseste Story Ihrer Karriere ereignete sich 1974, als Schalke in Bochum nach der Halbzeit ein paar Minuten ohne Torwart spielte. Es wurde oft erzählt, Sie hätten noch auf der Toilette gesessen, aber so war es nicht. Erzählen Sie bitte. Vor der Halbzeit hatte mich Hans Walitza am Knöchel getroffen, ich bekam in der Pause einen Eisbeutel auf die Stelle. Damals waren die Kabinen im Ruhrstadion noch in mehrere Bereiche aufgeteilt, ich lag allein im dritten Raum und sollte abgeholt werden. Als ich nichts mehr hörte, wurde ich stutzig. Ich ging in den zweiten Raum: keiner da. Da dachte ich noch: In der großen Kabine warten alle auf mich. Das war ein Irrtum. Draußen kam mir ein Eisverkäufer entgegen, der sagte: Beeil dich mal, die spielen schon. Das Problem war: Ich musste noch eine Lücke in einem Ring finden, den die Polizisten am Spielfeldrand gebildet hatten. Einen habe ich angetippt und gesagt: Ich muss auf den Rasen, ich bin der Torwart. Der hat sich gar nicht umgedreht und nur gesagt: Das kann ja jeder sagen. Erst ein Kollege hat ihn dann aufgeklärt und mich durchgelassen. Dem Schiri ist fast die Pfeife aus dem Mund gefallen, als er mich gesehen hat. Ata Lameck vom VfL hat mir später mal erzählt, die Bochumer hätten das gar nicht mitbekommen. Die hatten ja nicht einmal aufs Tor geschossen. Und unser Libero Klaus Fichtel sagte zu mir: Stell dir mal vor, ich hätte einen Rückpass gespielt. Auch der hatte das nicht gesehen. Unglaublich.
Gesungen haben Sie auch. Die Schallplatte trug den Titel „Wenn Schalke 04 nicht wär, wär das Parkstadion immer leer“. Ganz schön schräg. Das habe ich für einen guten Zweck gemacht. Alle Erlöse gingen an die Deutsche Krebshilfe. Ich muss aber sagen: Mit Unterstützung einiger Profis hat sich das damals gar nicht so schlecht angehört. Wenn ich das Gejohle heute so höre, denke ich: Bei ‚Deutschland sucht den Superstar‘ hätte ich durchaus Chancen gehabt. (lacht)
Sie gehörten 1974 zum deutschen Weltmeister-Aufgebot, haben aber nur sechs Länderspiele bestritten. Weil Sepp Maier in den Siebzigern gesetzt war? Oder weil er besser war? Mir ist mal gesagt worden: Wenn du bei Bayern München gespielt hättest, hättest du 100 Länderspiele. Wenn ich einen Bundestrainer wie später Jürgen Klinsmann gehabt hätte, hätte ich auch öfter gespielt. Ich kam damals vom falschen Verein.
Bundestrainer Helmut Schön war nicht gerade Schalke-Fan? Da gab es eine gewisse Ablehnung. Dass ich bei der WM 1974 der zweite Torwart war und auch im Endspiel auf der Bank saß, hatte ich Franz Beckenbauer zu verdanken. Er war mein Fürsprecher bei Schön. Franz und ich kannten uns schon von der Jugend-Nationalmannschaft. Er wusste: Die Mannschaft brauchte einen guten Torwart, wenn sich Sepp Maier mal verletzen würde. Das Verhältnis zwischen Sepp und mir war übrigens klasse. Überhaupt habe ich mich mit allen Bayern-Spielern damals gut verstanden, auch mit Müller, Breitner, Hoeneß. Die haben mich nie ausgegrenzt, ich habe mich in ihrem Kreis immer wohlgefühlt.
Können Sie es verstehen, wenn Spieler wie Manuel Neuer und Leon Goretzka Schalke verlassen, um mit den Bayern Titel zu holen? Ich kann nur sagen: Für mich musste das damals nicht unbedingt sein. Ich hatte in den Siebzigern auch mal ein Angebot aus Barcelona. Mir war unser Verein wichtiger.
Aber Sie sind doch zwischenzeitlich bei Hertha BSC gelandet. Es gab auf Schalke einen Präsidentenwechsel von Günter Siebert zu Dr. Karl-Heinz Hütsch. Ich hatte mich vorher mit Siebert darauf geeinigt, meinen Vertrag für eine gewisse Summe zu verlängern. Hütsch wollte diese Bedingungen nicht akzeptieren, der wollte sparen. Er wollte mir 30000 Mark im Jahr wegnehmen, das war damals viel Geld. Dazu war ich aber nicht bereit. Barcelona hatte mittlerweile einen anderen Torhüter. Dann rief Hertha an. Kurios war: Als ich 1979 nach drei Jahren in Berlin nach Schalke zurückkam, habe ich das Doppelte verdient. Da war Hütsch schon nicht mehr da.
Sie haben noch die Anfänge der schlimmsten Schalker Jahre miterlebt. Sie sind mit Schalke abgestiegen, wieder aufgestiegen – und dann haben Sie sich mit dem neuen Manager Rudi Assauer verkracht. Ich will darüber nicht mehr viel reden, auch mit Rücksicht auf Rudi Assauer. Aber es ist schon wahr: Ich galt damals als Sündenbock. Ich lebte in Scheidung und hatte in der Tat keine Top-Leistungen gebracht. Rudi teilte mir mitten in der Saison mit, dass er mich nicht mehr braucht. Der Vertrag lief aus, dann habe ich mich reamateurisieren lassen, bin für ein paar Monate zum VfL Hüls gegangen. Mit Rot-Weiss Essen bin ich danach noch in die Zweite Liga aufgestiegen, bis dann ein Trümmerbruch das Ende der Karriere war.
Sie waren einige Jahre lang sauer auf die Schalker Verantwortlichen und haben sich nicht mehr in der Arena blicken lassen, weil Sie die Wertschätzung vermissten. Hat sich das mittlerweile unter dem neuen Führungspersonal geändert? Es ging mir um die Stilfrage. Man gab mir eine Ehrenkarte für den La-Ola-Club, die mir nach einer Saison ohne Angabe von Gründen wieder entzogen wurde. Dabei hätte ich die gerne auch bezahlt. Wenn ich mich mit anderen Spielern aus dem Weltmeister-Aufgebot von 1974 getroffen habe, wollten die das gar nicht glauben. Ich habe damals gesagt: Wenn ich mich selbst im Schalke-Museum sehen möchte, muss ich Eintritt zahlen. Heute werden wir Älteren ab und zu mal eingeladen, es gibt eine Traditionsabteilung, die sich darum kümmert. Ich gehe auch wieder gerne zu den Heimspielen, wenn auch nicht regelmäßig.
Schalke 04 ist zuletzt vor 60 Jahren Deutscher Meister gewesen. Tragisch, oder? Sehr tragisch. Es gab mehrmals die Möglichkeit. Vor allem 2001, als sie Meister der Herzen wurden, hätten es die Spieler verdient gehabt. Aber ich hoffe, dass ich es doch noch mal erleben werde, dass Schalke Meister wird.
Glauben Sie tatsächlich, dass das möglich ist? Oder hoffen Sie es nur? Doch, ja, es ist möglich: Schalke kann Meister werden. Die Liga ist unheimlich schwach geworden. Man sieht es auch international. Vielleicht hätte Borussia Dortmund es nach dem Blitzstart schon in dieser Saison schaffen können, die Bayern abzufangen. Es liegt gar nicht so sehr an der Stärke der Bayern, dass sie immer Meister werden, sondern daran, dass die Mannschaften dahinter es nicht schaffen, echte Konkurrenten zu sein. Als Schalke 04 und auch als Borussia Dortmund musst du auf der Lauer liegen und da sein, wenn die Bayern patzen. Wenn sich da nichts ändert, bleiben die Bayern Abo-Meister.
Schalke steht gerade als Vizemeister fest. Wie beurteilen Sie das? Ich sage ganz klar: Das kann nur der Anfang sein. Die Mannschaft kämpft bis zum Schluss, das gefällt mir, aber sie hat in dieser Saison auch oft über ihre Verhältnisse gespielt. Schalke muss sich jetzt gut für die Zukunft aufstellen. Eine gute Saison verändert nämlich noch nichts.
Torhüter Ralf Fährmann ist Schalker durch und durch. Wie sehen Sie ihn? Ich habe ihn vor Jahren mal kennengelernt, als er lange verletzt war. Er hat mir sehr aufmerksam zugehört, als ich ihm geraten habe, dass er fest an sich glauben, dass er sich durchbeißen soll. Und er hat es geschafft. Ich finde, er ist eine Kultfigur auf Schalke geworden, ein Aushängeschild. Und seine Meinung sagt er auch, das ist wichtig.
Ihre Leidenschaft gilt dem Trabrennsport. Wie viele Pferde besitzen Sie? Zurzeit sind es zwei Traber. Man kann mit dem Rennsport hier aber nicht mehr so viel Geld verdienen wie früher. Ich möchte mir einen französischen Traber zulegen, der dann auch in Frankreich starten kann. Da gibt es zehnmal mehr für einen Sieg.
Nicht wenige frühere Profis hatten nach Ihrer Karriere Geldsorgen. Sie offenbar nicht. Ich habe Kollegen gesehen, die mit ganz dicken Autos durch die Gegend fuhren. Ich war nie größenwahnsinnig. Ich habe mein Geld in Immobilien angelegt, dadurch hatte ich immer mein Auskommen. Ich stamme aus einer Bergmannsfamilie, mein Vater hat mir gesagt: Wenn du eine Mark verdienst, musst du 80 Pfennig sparen und kannst 20 ausgeben. Daran habe ich mich gehalten.
Die 70 ist eine Marke. Was bedeutet sie Ihnen? Als ich 30 war, habe ich gesagt: So alt möchte ich werden. Die Zahl macht mir also keine Angst, sondern ich freue mich, sie erreicht zu haben.